Die Relativitätstheorie fasziniert und polarisiert. Der
Intellekt sucht die Herausforderung und möchte eindringen in dieses
neuartige Ideengebäude. Jene, denen die Aneignung der vorgegebenen
Gedankengänge widerstandslos gelingt, werden bald zu deren Verfechtern.
Jene aber, die auf Widersprüche stoßen (gleichgültig, ob diese in der
Sache oder in fehlerhafter Rezeption liegen), können zu Kritikern
werden.
Die Gräben zwischen Verfechtern und Kritikern werden tiefer, der Ton wird schärfer, beide Seiten rüsten auf.
Die
Verfechter bilden einen wohl organisierten Block Gleichgesinnter, die
sich auf der Seite des Fortschritts sehen. Diesen gilt es mit allen
Mitteln zu verteidigen. Anlass zu kritischer Auseinandersetzung mit der
Theorie hat es für sie nie gegeben.
Die Kritiker sind eine bunte
Mischung kaum organisierter Einzelkämpfer, die mit unterschiedlichstem
Wissensstand von verschiedensten Positionen her die Theorie ad absurdum
führen wollen. Vom Physikprofessor über den Philosophen bis hin zum
Ingenieur, Arzt und Oberlehrer sind die verschiedensten Berufsgruppen
und Bildungsniveaus vertreten.
Bereits um 1727 hatte James Bradley bei
Fixsternbeobachtungen festgestellt, dass Lichteintritt E und Austritt A
beim Fernrohr nicht auf einer gemeinsamen Achse liegen. Ursache dafür
ist die Erdbewegung senkrecht zum Lichteinfall. Während das Licht die
Länge des Fernrohrs durcheilt, rückt das System Erde-Fernrohr bei seinem
jährlichen Sonnenumlauf merklich nach rechts (siehe Abbildung).
Darin sehen Mathematiker ein Problem:
Die
Laufwege eines „Lichtpunktes“ bei Ruhe und bei Bewegung des Fernrohrs
weichen voneinander ab, dennoch braucht Licht scheinbar die gleiche Zeit
für diese unterschiedlichen Strecken. Nach dem Prinzip von der Konstanz
der Lichtgeschwindigkeit darf der Strahl auf dem längeren Weg von E
nach A nicht schneller sein als bei geradem Durchgang. Naheliegende
Lösung: Die Zeit verläuft langsamer.
Physiker lösen das Problem ohne jede Zusatzannahme mit den bekannten Gesetzen der Wellenlehre.
Nehmen
wir an, das Sternenlicht ist zu jedem Zeitpunkt im Vakuum unterwegs
(auch innerhalb des Fernrohrs), so besteht keine Voraussetzung für eine
Lichtablenkung. Die Wellenfronten stehen dann immer senkrecht auf dem
Vektor der Lichtgeschwindigkeit. Verfolgen wir jedoch einen ausgewählten
Frontpunkt während seines Durchganges, so scheint dieser bezüglich des
Fernrohres immer weiter nach rechts zu rücken. Aufeinanderfolgende
Frontpunkte sind versetzt zueinander und lassen sich zwar durch eine
Linie verbinden, entlang derer sie sich auszubreiten scheinen, aber hier
handelt es sich nicht mehr um die ursprüngliche Lichtwelle. Die
Wellenfronten stehen nicht mehr senkrecht auf der beobachteten
Ausbreitungsrichtung, so dass auch die Vektoren der elektrischen und
magnetischen Feldstärke keinen rechten Winkel zur Ausbreitungsrichtung
dieser Phasenwelle mehr haben. Aus der reinen Transversalwelle ist ein
Hybrid geworden, der auch longitudinale Feldkomponenten enthält. Solche
Phasenwellen mit höherer Geschwindigkeit als c treten auch beim Übergang
in Stoffe auf, deren Brechungsindex n < 1 ist. Das ist auch nicht
problematisch, da mit wachsender Phasengeschwindigkeit auch der Energie-
bzw. Informationstransport abnimmt: Eine bestimmte Energieportion kann
also tatsächlich nicht schneller als mit c vom Eintrittspunkt E zum
Austritt A laufen, wohl aber die Phase.
Obwohl der
Physikerstandpunkt unstrittig sein dürfte, verweisen Mathematiker in
letzter Instanz immer wieder auf die Erfolge, die mit der
relativistischen Betrachtungsweise erzielt wurden. Diese benutzt den
Begriff der Phasengeschwindigkeit nicht und muss deshalb auf dem Wege
gewisser Transformationen die Verbindung zur physikalischen Realität
wieder herstellen. Schauen wir uns einmal näher an, wie die
Beobachtungen zueinander ruhender bzw. bewegter Beobachter aus
Mathematiker- bzw. Physikersicht erklärt werden. Tun sich hier
tatsächlich unüberbrückbare Gräben auf oder lassen sich gemeinsame
Elemente finden, die nur durch die jeweils eigenwillige Denkart des
anderen unerkannt bleiben und zu Verständnislosigkeit führen?
1. Lichtausbreitung in Mathematik und Physik
Jeder
Lichtstrahl bewegt sich im „ruhenden“ Koordinatensystem mit der
bestimmten Geschwindigkeit V, unabhängig davon, ob dieser Lichtstrahl
von einem ruhenden oder bewegten Körper emittiert ist. Hierbei ist
Geschwindigkeit = Lichtweg/Zeitdauer, wobei „Zeitdauer“ im Sinne der
Definition des §1 aufzufassen ist. [1] S. 895
Zur Zeit tA gehe ein Lichtstrahl von A aus… [1] S. 896
Der
Mathematiker benutzt das Modell „Lichtstrahl“, um Informationsaustausch
zwischen Beobachtern von Ereignissen abstrakt darstellen zu können.
Dabei ist für ihn die konkrete Beschaffenheit und Herkunft der
verwendeten Strahlung unerheblich, da für seine Zwecke allein die
Ausbreitungsrichtung und die Vakuumgeschwindigkeit eine Rolle spielen.
Mit dem experimentell gesicherten Befund, dass die Vakuumgeschwindigkeit
elektromagnetischer Wellen unter allen Umständen konstant ist, sieht er
sich berechtigt, eine umfassende Elektrodynamik bewegter Körper logisch
widerspruchsfrei zu konstruieren. Die spezielle Relativitätstheorie
(SRT) ist das Ergebnis solcher Bemühungen.
Der Physiker benutzt
je nach Aufgabenstellung verschiedene Modelle der Lichtausbreitung. Auch
er benutzt das Modell Lichtstrahl, wenn es um Strahlenverläufe z.B. in
optischen Geräten geht, aber dieses Modell reicht nicht mehr aus bei der
Beschreibung von Dipolstrahlung, deren elektromagnetische Felder sich
im dreidimensionalen Raum ausbreiten und zeitabhängig sind.
Der
Physiker unterscheidet Lichtausbreitung im Vakuum und im Medium, die ja
durch verschiedene Geschwindigkeiten gekennzeichnet sind. Als Ursache
dafür unterscheidet er auch Phasengeschwindigkeit und
Gruppengeschwindigkeit einer Welle, die unter bestimmten Umständen nicht
identisch sein müssen.
Mit der Gruppengeschwindigkeit
(„Lichtgeschwindigkeit“) c wird Energie bzw. Information übertragen. Im
Vakuum stehen die Vektoren der elektrischen und magnetischen Feldstärke
senkrecht auf c, so dass die Felder quer zur Ausbreitungsrichtung stehen
und man von Transversalwellen spricht.
Mit der
Phasengeschwindigkeit cPh beschreibt man die Ausbreitung allein der
Phase, selbst wenn die Welle keine reine Transversalwelle ist und eine
longitudinale Komponente der Feldvektoren enthält. Ein solcher Fall
tritt ein, wenn Gruppengeschwindigkeit c und Phasengeschwindigkeit cPh
einen Winkel a > 0 einschließen, so dass die Wellenfronten (und damit
die Feldstärkevektoren) nicht mehr senkrecht auf der
Ausbreitungsrichtung von cPh stehen.
Unter welchen Umständen kann ein solcher Fall auch im Vakuum eintreten?